Beim mündlichen Erzählen formuliere ich die Geschichte frei, sie entsteht in dem Moment neu.
Die Bilder, die ich im Kopf habe, mache ich für die Zuschauer lebendig. Dann wissen sie, wie der
Knecht aussieht, wie sich der König anhört oder wie die Seide des Prinzessinnenkleides raschelt.
Grimms Märchen funktionieren eigentlich immer. Viele Erwachsene glauben, die gängigen gut zu kennen, aber schon beim „Froschkönig“ kommen sie bei den Details ins Stolpern. Der Frosch wird beispielsweise im Original gar nicht geküsst. Weniger bekannte Märchen aus der Grimm-Sammlung sind
Geschichten wie „Die drei Federn“ oder „Die zwölf Jäger“. Es gibt auch sehr schöne Märchen aus aller
Welt, da empfehle ich fürs Familienregal die Sammlungen aus dem Königsfurt Verlag, sie sind entweder
nach Ländern oder nach Themen geordnet, da gibt es zum Beispiel Märchen vom Glück.
Kinder können sehr lange still sitzen und zuhören. Da sind die Erwachsenen oft ganz erstaunt. Ich
arbeite aber schon viel mit Mimik und Gesten oder stelle Fragen: „Was für ein Geräusch macht der
Frosch?“ oder „Wie sieht der Hans aus?“ Manchmal üben wir vorher gemeinsam ein Lied, und an
der entsprechenden Stelle in der Geschichte singen es die Kinder. Oder wenn ein Tisch gedeckt wird,
dann dürfen sie mit überlegen: Was kommt da alles drauf?
Ich überlege mir vorher: Kann ich das selbst aussprechen? Wenn mich das Grauen packt, lasse ich
es weg. Also zum Beispiel, wenn sich die böse Stiefmutter in glühenden Pantoffeln zu Tode tanzen
muss. Da sage ich dann lieber abstrakt: „Sie bekam eine schlimme Strafe“ – und jeder füllt das gedanklich für sich aus. Gerade Jungs freuen sich aber, wenn mal ein Trollkopf über den Küchenboden rollt. Jeder weiß: Trolle gibt es nicht, da geht sowas.
Das ist immer ein Balanceakt, ich will ja die Großen genauso mitnehmen wie die Kleinen. Für Kinder
ist es aber gar nicht so schlimm, wenn sie nicht alles verstehen. Neulich habe ich ein Märchen über eine „blaue Rose“ erzählt. Ein Junge hatte anfangs „blaue Hose“ verstanden. Er hat sich aber brav alles angehört und nur am Ende gesagt: „Ach so,
es ging um die Blume!“ Ein Erwachsener wäre schon viel früher ausgestiegen.
Als Einstieg empfehle ich, einfach mal das Buch wegzulegen und gemeinsam zu überlegen: Wie geht
denn die Geschichte, wer weiß noch was? Und auch mal Rollen zu verteilen. Dann spricht einer den
Wolf, einer die Mutter und einer alle sieben Geißlein. Das kann einen Riesenspaß machen.
Und wenn die Kinder dazu keine Lust haben? Ich empfehle, ein kleines Ritual einzuführen.
Vielleicht wird eine bestimmte Kerze angezündet, oder man trinkt einen besonderen Tee. Es gibt auch
einen alten Reim, den man gemeinsam sprechen könnte: „Mit diesem alten Schlüssel hier, öffnen
wir die Märchentür!“ Dabei wird ein unsichtbarer Schlüssel in ein unsichtbares Schloss gesteckt. Und
alte Türen dürfen ruhig ein bisschen knarren beim Öffnen.
Da funktioniert Vorlesen besser. Also immer wieder dieselbe Bilderbuchgeschichte lesen, das hat
etwas Rituelles, da kommen die Kinder zur Ruhe. Erzählen ist eher etwas für Morgenmuffel. Wenn Sie ihren Kindern zum Aufstehen ein Märchen erzählen, dann sind sie wach!